Ein Interview mit Frau Rosemarie Arlt, die ihre Lobetal-Geschichte erzählt
Frau Rosemarie Arlt wurde am 01. März 1932 in Grünberg in Schlesien geboren. Mit nicht einmal 17 Jahren ist Frau Arlt nach einer Flucht aus Schlesien durch Pastor Reske zu Lobetal gekommen. Die Geschichte dazu lesen Sie hier in diesem Interview. Das Interview mit Frau Arlt wurde im Juli 2021 aufgenommen und zum Geburtstag der Lobetalarbeit möchten wir Sie, liebe Leser*innen, daran teilhaben lassen.
Wie sind Sie, Frau Arlt, nach Lobetal gekommen?
„Frau Reske, Pastor Reske´s Ehefrau, ist die Cousine meines Vaters. Ich bin gleich nach der Schule nach Lobetal gekommen – da war ich noch keine 17 Jahre alt. Das war kurz vor Weihnachten und im März darauf bin ich 17 Jahre alt geworden.
Pastor Reske hatte mich bereits 1944 in den großen Ferien zu sich eingeladen. Er war damals Zuhause, weil er schwer verwundet und nicht mehr im Krieg war. Sie wohnten sehr beengt. Meine Eltern sind beide kurze Zeit hintereinander gestorben und da hat mich Pastor Reske einfach eingeladen – er kannte mich im Grunde genommen nicht. Aber seine Frau kannte mich. Und er wusste, dass ich meine Eltern verloren hatte. Meine Mutter ist im November 1943 und mein Vater im Mai 1944 gestorben. Im Januar 1945 begann meine Flucht aus Schlesien – alles sehr kurz hintereinander. Eine schwere Zeit damals.
Nach einigen Zwischenstationen hat mich die Schwester meiner Mutter aufgenommen, wo ich die letzten zwei Jahre zur Schule gehen konnte. Danach ging es darum, dass ich nicht weiter zur Schule gehen sollte, weil wir kein Geld hatten. Pastor Reske fragte mich, ob ich Lust hätte ins Kinderheim zu kommen und mitzuhelfen. Ich wollte etwas mit Kindern machen, hatte aber keine Vorstellung, wie die Arbeit ist. Ich konnte mir vorher auch vorstellen, dass ich Lehrerin werde, aber auch davon hatte ich keine Vorstellung. Nur mit Kindern wollte ich schon immer etwas arbeiten.“
Die Flucht und Ankunft in Hof Beutzen
„Ich bin über die grüne Grenze. Ein Bekannter von meinen Verwandten hat mich bis an die Grenze gebracht und anschließend bin ich im Harz in Eckertal allein über die Grenze gelaufen. Auf der anderen Seite habe ich in einem Wartesaal gewartet, bis am späten Nachmittag Herr Arlt, der Bruder von Frau Reske und Hausleiter von Hof Beutzen, kam und mich abgeholt hat. An dem Abend sind wir nur bis Hannover (Beckedorf) gekommen und am nächsten Tag sind wir weiter von Beckedorf nach Hof Beutzen zu Fuß gelaufen. Gepäck hatte ich nicht viel.
In Hof Beutzen angekommen hat mir Schwester Dora, die Hausmutter, mein Bett, die Fächer in der Kommode, die mir gehörten und ein Stück vom Schrank gezeigt. Sie hat mir gesagt, dass ich gleich auf die Jungenstation kommen soll – da meinte mein Onkel, ob ich nicht erst eine Freistunde haben dürfte. Ich hatte zwei Nächte nicht richtig geschlafen. Die Arbeit ging nach meiner Freistunde sofort los. Auf der Jungenstation wuselte es um mich herum. Ich hatte eine sehr nette und tatkräftige Mitstreiterin; sie hat immer gesagt „Komm, das machen wir zusammen!“. Sie hat mich gewissermaßen eingeführt in die Arbeit“
Hof Beutzen, 1948
Die Kinderpflegerinnenschule
„Im Juli 1949 hat Pastor Reske die Kinderpflegerinnenschule eröffnet. Er hat immer gesagt, dass wir alle Flüchtlingsmädchen bzw. junge Frauen waren, die irgendwie „aus dem Leben gerissen“ waren und die „nichts“ hatten. Pastor Reske sagte immer: „Ihr müsst ein Papier haben“. Er war sehr darauf bedacht, dass wir ein Papier bekamen und nicht als Ungelernte arbeiteten. 1949 hat er unter primitivsten Umständen die Kinderpflegerinnenschule (berufsbegleitend) angefangen. Wir bekamen (ich glaube) im Monat 10 Mark. Er hat auch dafür gesorgt, dass die Ausbildung staatlich anerkannt wird. Die Schule war in Hof Beutzen. Herr Reske war immer darauf aus, dass wir etwas lernten und hat mich immer weiter geschoben und hat gesagt „Du musst weiter lernen“. Ich habe mich als Kinderpflegerin in meiner Gruppe mit den kleinen Jungen sehr wohl gefühlt. “
Wie lange waren Sie in Hof Beutzen?
„Nach der Kinderpflegerinnenschule hatten wir dann das Anerkennungsjahr als Kinderpflegerinnen. Ich war ein Jahr im Rheinland in einer Lehrer-Familie mit fünf Kindern. Ich wollte nicht in eine Familie mit nur einem Kind, das war mir zu wenig. In der Anzeige hieß es, sie suchten jemanden, der mit der Hausfrau zusammen alle vorkommenden Arbeiten verrichtet – das habe ich mir zugetraut. Der Kontakt zu der Familie ist nicht abgebrochen“
Wie ging es nach dem Anerkennungsjahr weiter?
„Nach dem Anerkennungsjahr ging es dann wieder zurück nach Hof Beutzen, wo ich wieder die kleinen Jungengruppe betreut habe. Dann kam Frau Stage als Heimleiterin und Schwester Dora. Schwester Dora war Säuglingsschwester, eine Lobetalschwester. Sie ging dann nach Hetendorf, denn da wurde ein Heim für behinderte Kinder, vor allen Dingen Säuglinge, aufgebaut. Diese sagte dann mal zu uns: „Die brauchen auch mal einen Platz, wo sie in Frieden sterben können“. Das war 1952.
1954 bis 1956 war ich in Großburgwedel und habe dort die Erzieherinnenausbildung gemacht. In dieser Zeit ist das komplette Kinderheim von Hof Beutzen nach Stübeckshorn umgezogen. Ich bin dann nach der Ausbildung nach Stübeckshorn gegangen. Die Schülerinnen wurden in Stübeckshorn unterrichtet. Ich habe zu diesem Zeitpunkt schon angefangen, Werken mit nur wenig Materialien zu unterrichten. Ich war bis 1961 in Stübeckshorn.
Dann kam Pastor Reske und meinte zu mir „Du musst weiter lernen“. Ich habe weitergelernt und bin zu meiner Sozialpädagoginnen-Ausbildung nach Kaiserswerth. Anschließend bin ich mit Frau Liers zusammen nach Celle zurückgekommen. Frau Liers wollte in die Nähe von Hannover, da hatte sie eine Tante und sie wollte näher bei ihren Eltern sein, die in Schleswig-Holstein wohnten. Als Frau Liers und ich nach Celle kamen, war das Schülerinnenwohnheim (Internat) noch nicht fertig. Es gab nur drei Etagen, die wir dann sauber gemacht haben. Frau Liers war die Leiterin des Internats“
Wie war das Lobetal-Gelände damals, als Sie hier nach Celle kamen?
„Die Schule wurde erst 1964 gebaut. Bis dahin wuchsen dort noch Kornblumen. Wir stapften durch Sand und überall lagen Holzlatten. Die ersten Schülerinnen mussten herübergehen ins Hauptgebäude unten in den Keller. Das Hauptgebäude war das Haus Tabor. Als die Schule fertig gebaut war, wurde dort unterrichtet und auch gegessen. Das Essen wurde immer von der Küche geholt, die es auch schon gab. Die Küche war damals auch noch unten in Tabor. Das Haus Tabor wurde 1954 gebaut. Das erste Haus in Hetendorf, welches Pastor Reske als Altenheim gebaut hat, war Bethanien. Dort hat die Schwester von Frau Reske und Herrn Arlt, Schwester Anna, gearbeitet.“
Wo haben Sie in Celle gearbeitet?
„Ein Jahr habe ich noch im Internat mitgearbeitet. Wenn jemand nach Stübeckshorn gefahren ist, bin ich mitgefahren und haben dort die letzten Kinderpflegerinnenschülerinnen unterrichtet. Dann war ich ganz in der Schule in Celle und habe dort gearbeitet. Gewohnt habe ich im Internat. 1970, als das Hochhaus im Garnseeweg 109 fertig gebaut wurde, bin ich dann aus dem Internat in den Garnseeweg gezogen. Dort durften damals nur die Lehrkräfte und andere Mitarbeiter wohnen“
Was haben Sie unterrichtet?
„Ich habe zunächst die Kinderpflegerinnen mit Erziehungslehre und Kinderliteratur unterrichtet. Material dafür musste ich damals erarbeiten, denn Unterlagen gab es nicht. Werken habe ich auch unterrichtet. Ich bin kein Mensch, der Spiele unterrichten konnte – dafür konnte ich die Schülerinnen nicht begeistern. Das konnten Frau Liers und auch Frau Lange gut. Praxis hatte hauptsächlich Frau Liers begleitet und unterrichtet.
Die Kinderpflegerinnenschule wurde aufgegeben, weil diese nicht mehr gefragt war. Es gab neue Bestimmungen. Dann kam die Kurzerzieherklasse (die nach einem Jahr eine Prüfung machten und dann Erzieherinnen waren), Heilerziehungsschule und Altenpflegeschule.“
Wie war das Leben im Internat?
„Streng geregelt – vor allen Dingen im ganzen großen Gebäude, sowohl im Internat als auch im Schwesternwohnheim (die waren damals getrennt). Schwester Meta hatte einen Hausschlüssel und im Internat gab es einen Schlüssel. Mehr nicht. Als Frau Liers geheiratet hat, habe ich gebeten, dass Sie mir den Schlüssel in die Schule legen. Das haben sie vergessen. Ich kam nachts um drei Uhr zurück, saß da unten und kam nicht in mein Bett. Dann bin ich zu Familie Reske, die überrascht fragten was ich wollte. Ich meinte „ein Bett“ – dann habe ich bei ihnen geschlafen und bin morgens zum Unterricht gegangen. Es gab keine weiteren Hausschlüssel. Da saß immer ein Pförtner bis 24 Uhr und es wurden nur die reingelassen, die auch rein durften.
Das galt auch für uns Lehrkräfte. Wenn wir zum Beispiel unterwegs waren, z.B. in Hannover, mussten wir uns beeilen, dass wir überhaupt ins Haus kamen.
Am Anfang hatten die Schülerinnen noch unterschiedliche Ämter, die wir auch kontrolliert haben. Es gab Ämter wie z.B. „Zimmer sauber machen“, „Teeküche sauber machen“, „Toiletten sauber machen“ – das wechselte immer. Ein Wochenende im Monat mussten die Schülerinnen auch in Lobetal in Celle und Stübeckshorn mitarbeiten. Dafür gab es dann am Ende der Schulzeit eine Freizeit.“
Bis wann waren Sie in der Schule tätig?
„Bis ich 60 Jahre alt war, also bis zur Rente.
Mir hat die Arbeit mit den Kindern und jungen Menschen sehr viel Freude bereitet. Das wirklich gute Kollegium in der Schule fand ich sehr gut und auch die gute Hausgemeinschaft im Hochhaus. Wir haben alle Höhen und Tiefen gemeinsam geschafft“
Frau Rosemarie Arlt
Ich bedanke mich im Namen der Lobetalarbeit für dieses Interview und wünsche Ihnen, Frau Arlt, alles erdenklich Gute!
Melanie Warnecke
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